Spielplatz Autobahn: Parade über die seit Monaten angeeignete A100-Baustelle, März 2021.

Die A100-Baustelle zwischen Neukölln und Treptow gleicht inzwischen einer gewaltigen Mondlandschaft. Die mehr als 613 Millionen Euro teure, vier Kilometer lange und knapp zehn Meter tiefe Schneise aus glattem Beton entwickelt sich trotzdem unerwarteterweise
während der Lockdowns in der Coronapandemie ab März 2020 zu einem belebten Spielplatz und zum neuen Graffiti-Paradies. Die Bauarbeiten gehen nur schleppend voran, während Writer*innen nachts sichtgeschützt unterhalb der Brücken die fertigen Abschnitte der Reihe nach mit aufwendigen Bildern bemalen – in einer Qualität, die an anderen Orten in Berlin kaum noch zu sehen ist.

Im Prozess des städtebaulichen »Untergangs«, den der Wandspruch auf der Räuberparty im Möbelhaus betitelte, ist ein neuer Freiraum entstanden, in dem sich wenigstens die Kunst hoffentlich noch lange ihre Bahn bricht. Seitdem füllten sich die zum Malen perfekt geeigneten glatten Betonwände fast täglich mit neuen Wandbildern. Anders als wir es in Berlin gewohnt sind, gab es nun einen Ort, wo mit Zeit und Ruhe gearbeitet werden konnte, was der Qualität der Werke anzusehen ist. Manche kamen mehrmals die Woche hierher. Die vielleicht größte Hall of Fame der Stadt seit dem Mauerfall. Der Parkplatz des Estrel-Hotels, direkt neben dem abgerissenen Möbelhaus, stand mehr als ein Jahr leer. Den Eingang zur Baustelle auf dem Parkplatz markierte nun ein etwa 30 Meter langer Fuchs, ein Tier, dem wir seit dem Lockdown ständig begegneten, wenn wir nachts malen gingen.

Besonders an den Wochenenden wurde die Autobahn von Spaziergänger*innen genutzt, die von Neukölln zum Treptower Park liefen. Der verwaiste Hotel-Parkplatz konnte zum pandemie-konformen Grillen und Biertrinken genutzt werden, auch für spontane Konzerte, nachdem eine funktionierende Steckdose am leeren Parkplatzwächter-Häuschen entdeckt wurde. An einem Sonntag im März 2021 ging eine Parade auf die Autobahn. Die Teilnehmer*innen verkleideten sich als Autos, brachten Mal-Utensilien, aber auch Musikinstrumente und Tonabnehmer mit, mit denen sie die Rohre und Hohlräume auf der Baustelle zum Klingen brachten. Eine nur für diesen Anlass gebaute Augmented-Reality-App für die mitgebrachten Smartphones ließ virtuell Autos auf der Fahrbahn fahren, die aber ständig im Stau standen und regelmäßig hupend zusammenstießen. Leider stoppte die Polizei die Parade auf halber Strecke, die plötzlich brüllend auf der Brücke darüberstand. Der Freude über den Ausflug tat das keinen Abbruch. In ein paar Jahren, wenn hier 24 Stunden am Tag nur noch Autos entlangbrettern und auf dem Parkplatz eines der höchsten Hotel-Gebäude Berlins stehen wird, werden wir uns daran erinnern, ausgerechnet an diesem Ort eine ganz andere Realität gelebt und sichtbar gemacht zu haben.

Fotos: RYC, 2021
Fotos der Baustelle: RYC, 2014-2020