Zine mit Beobachtung zur Kurfürstenstraße Ecke Potsdamer Straße, Berlin-Schöneberg, dem Ort der ursprünglich geplanten Ausstellung RYCBimer & Friends.

Von Ilona B. („Die Glücklichen“).

„keine meine deine seine eine reine feine kleine teure verkaufsausstellung
fine meets fuck / fuck meets fine / nehmn wir uns die stadt zurück?!
egal was wir tun – we do gentrification
01.12.2016 / KURFÜRSTENSTR. 145 / 18 h
neowestberlinlove“
(Veranstaltungsankündigung)

TEXT (Ilona B.)

Schaufensterbummel 18.10.2016

Ich düse in Dunkelheit die Leipziger Straße entlang: Potsdamer Platz, an der gerade renoviert werdenden Neuen Nationalgalerie vorbei, über der Kanal…. Gonjasufi pumpt mich bis in die Kurfürstenstraße 145. Ich sperre mein Fahrrad an, ziehe mir die Ohrstöpsel raus und bin da. Erst jetzt realisiere ich das Bündel aus Streifenwägen auf der anderen Straßenseite. Die Besatzung der Streifenwägen filzt gerade eine Gruppe Frauen – aha – mittendrin im Geschehen.

Um mich aus der Situation zu abstrahieren, filme ich das wilde Schattenspiel das sich am U-Bahneingang aus den vorbeifahrenden Autos und dem Geländer des Eingangs ergibt. Als ich zurück vors Neo West Berlin Love komme, steht plötzlich Christoph vor mir. Er wurde wohl schon mehrfach angequatscht. Wir beginnen unsere Erkundung weil rumstehen und gucken tun hier zu viele. Trotzdem müssen wir uns updaten: der betrunkene Nachhauseweg nach der Pappsattparty, die Geschehnisse des letzten Wochenendes…. Unsere soziale Beziehung trifft auf unseres gemeinsames Vorhaben für die Ausstellung trifft auf diese abgefahrene Gegend um die Galerie.

Wir holen was zu trinken und schneiden in einem Freier-Prostituierten-Gespräch mit, dass Französisch 20 Euro kostet. Unser Gespräch gerät immer wieder ins Stocken, weil das Business der Umgebung unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht als wir vom Neo westliche Richtung laufen. 100M von den Ausstellungsräumen entfernt treffen sich auf einem Platz mehrere Kirchengebäude ein auf Bautafeln angekündigtes Bauvorhaben und die größte Getränke-Hoffmann-Front ever.

Unschlüssig gehen wir auf der anderen Straßenseite zurück und spielen verschiedene methodische Möglichkeiten unserer Zusammenarbeit durch. Wir suchen eine Bar und biegen von der Potsdamer Straße in die Pohlstraße ein, Erinnerungen an eine besuchte Ausstellung motivieren die Richtung: kleine Galerien mit guten Raumkonzepten, schnöde Weinrestaurants, eine Shishabar… wir drehen wieder um. Auf der anderen Seite der Potsdamer Straße gibt es zwischen Leerstand eine Hipsterbar, zumindest sehen die drei Typen im riesigen Fenster, die gefällig aperol-farbige Getränke mit Eiswürfeln vor sich zu stehen haben danach aus. Die Getränkepreise sind außen nicht angeschrieben, auch keine Option. Wir biegen wieder ab, eine ansonsten dunkle Straße und in einiger Entfernung eine bunte Lichterkette die sowohl als Hoffnung oder Wendepunkt gesehen wird: Die Kara Kas Bar – wir kehren ein. Es ist zwar komplett leer, die Frau hinterm thresen verspricht eine Dancehall Party ab 23 Uhr, das Ambiente lässt uns entspannen.

Die Nutzung des öffentlichen Raums im Bereich der Kurfürstenstraße fordert heraus. 100 m in jede Richtung löst sich die gefühlte Spannung in jeweils andere Formen von Stadt auf. Was macht die Galerie genau mitten in dieser Szene? Wir diskutieren eine fotografische Kartierung und verabreden auch nach bekifft-interessantem BLABLA eine/weitere Explorationen am Tag. Als ich mich später mit dem Rad in südliche Richtung entferne, sehe ich weitere Prostituierte unter den Bülowbögen und auch in den südlich angrenzenden Wohngebieten.

Exploration I 23.10.2016

Sonntag 17 Uhr, erneut mit dem Fahrrad „angereist“, die Wahrnehmung voll auf Aufnahme: verschiedene soziale Nutzungen südlich der Galerie: Kitas, ein Familienzentrum, Outreach mit Bolzplatz, das Stadtteilbüro eines Abgeordneten der Grünen aus der Brachfläche gegenüber vom Neo.

Ich zwinge mich durch einen Bauzaun. Die Brache die ich betrete ist übersät mit Scheißehaufen, Abwischtüchern, Kondomen und blauen Kondomverpackungen, die gemeinsam ein braun-weiß-blau gepunktetem Muster auf grauem Beton ergibt. Die Dichte der Verschmutzung zeugt von dem industriellen Charakter der Prostitution an diesem Ort, und lässt die Arbeitsbedingung der Straßenprostitution vor meinem inneren Auge aufflackern. Ich frage mich, wie viel würdeloser das Zusammentreffen zweier Menschen sein kann?

Der Einbruch der Temperaturen und das eintönige Grau der letzten Wochen provoziert in mir eine Melancholie und Niedergeschlagenheit. In diesen Phasen bin ich sensibel/anfällig für die urbane Darkness Berlins. Zwei Russen, die bei Edeka ihre Cents zählen um herauszufinden, ob sie sich neben den beiden Packungen Toastbrot noch eine Dose Bohnen leisten können…. Die Armut der Menschen und ihre höchst induvidualisierte und manchmal selbstzerstörerische Art sich dagegen zu wehren, kann mich ganz schön fertig machen.

So ist auch diese Exploration im Kiez um die Kurfürstenstraße beklemmend. Nirgendwo fand ich es als rumstehender Mann unangenehmer als hier. Ist die Frau da auch eine Prostituierte? – Ach ne die hat ja ein Kind dabei. Zwei Streetworker auf Fahrrädern machen ihre Runde, irgendwer scheint sich also zu kümmern und mindestens die Frauen mit Arbeitsschutz auszurüsten. Trotzdem macht mich der Ort insgesamt ratlos. Wie könnte eine künstlerische Intervention an dieser Stelle aussehen? Die Situation ist so verkackt. Was eindeutige Gefühle produziert, sind die dicken Karren der Zuhälter und das Luxusbauprojekt das demnächst Eigentumswohnungen für 1,9 Millionen Euro bereitstellt.

Das Bebildern und/oder der Voyerismus ist gefühlt eine Sackgasse, die lediglich auf das Fortbestehen des Ortes aus ist. Was wird hier reclaimed? Ist es der seltsame und gefährliche Raum zwischen abgeparkten Autos und Fahrbahn, in dem das zur Schaustellen und die Kommunikation zwischen motorisiertem (geschütztem) Kunden und unmotorisierter (ungeschützter) Anbieterin erfolgt

Exploration II: (31.10.2016)

I go more easy. Auf dem Weg zur Kurfürstenstraße steht am Mehringdamm der Zugang zur Toilette, dem damaligen Ausstellungsort, offen und ich treffe den Arbeiter, der das Teil bearbeitet. Anschließend rolle ich durch den Gleisdreieckpark – die noch aktiven Gleise langweiln hier – und stelle fest, dass die Kurfürstenstraße auf den Park trifft und die nette Karakas Bar da gleich ist. Ich sitze auf der Potsdamer vor einem schäbigen Backshop und lasse zu Gonjasufi die Stadt passieren: „I was never meant to be this fucked up“ – guter Spruch für mich, uns, die Prostituierten, die Gesellschaft? Ein Mülleimer wird geleert, der Angestellte der BSR macht das vielleicht seit 20 Jahren, immer die selben Mülleimer… wie wirkt sich das auf die Psyche aus immer nur den Müll der Menschen/Stadt/Gesellschaft zu entsorgen? Ich fahre einen weiten Bogen, versuche unter den Bülowögen eine Perspektive zu bekommen, lichte Fassaden (viel Nachkriegsglattheit) ab und fange ein paar Kranbewegungen auf der Luxusbaustelle ein. Ich zirkle um die Galerien herum und pushe die Leipziger zurück nach F’hain: an jeder roten Ampel abbremsend und die Straße nach Diamanten abscannend und überraschend fündig werden.

Exploration III: (8.11.2016)

We check out the space from the inside: Nach einem Date im Abgeordnetenhaus sind Nele und ich zu zweit bei der Raumerkundung, ein viel leichteres Gefühl. Auch hab ich mittlerweile Orientierung im Raum. Wir schließen unsere Fahrräder an und essen bei einem Metzger auf der Potsdamer eine Bullette mit Bratkartoffeln die nach ihrer Bratung den halben Tag auf Warmhaltung waren… naja. Wir gehen zum Neo und da Leute da sind klopfen wir und bekommen vom Adlatus aufgesperrt und kucken uns zögerlich um. Die Szene um den Chef voll unentspannt, wir auch, mein Raum, dein Raum, wir cool, voll cool, ich koks, du Schwanz… wir fühlen uns fast eingesperrt, bis wir wieder drausen sind. Auf dem Weg weiter sprechen wir über geschlechtsbedingte Raumwahrnehmung, Nele findets gar nicht so unangenehm, meint aber dass es dieses Gefühl bezüglich der Raumwahrnehmung aus weiblicher Perspektive viel öfters gibt…. Schließlich lustwandeln wir durch Möbel Hübner. Eine Stunde vor Ladenschluß haben die meisten Angestellten wohl nicht mehr mit Kunden gerechnet, deswegen schrecken wir einige auf, die sofort hinter ihren überdimensionierten Schreibtischen repräsentative Haltung einnehmen. Die aktuelle Teppichmode als auch die Stoffe erachten wir als interessant, alles ziemlich teuer, auch eher ein sterbendes Schiff das den Entwicklungen am Markt vermutlich nicht gewachsen ist. Was ist also über die für uns zugänglichen Räume an der Kurfürstenstraße zu sagen?

Parallele Entwicklungen: Christoph ist überarbeitet und wir verbleiben eher zwanglos, mal sehen ob was klappt. Bimer fordert uns mit der ganzen Konzeption (Videos, Zine, Auktion) ständig heruas. Die Pappen beschließen einen Ausstellungsbeitrag zu Liverpool: that’s what we do together!

Exploration IV 14.11.2016:
Nach dem Augenarztbesuch in Kreuzberg floate ich entlang der U1 in gleisendem Sonnenschein ein vormal letztes Mal zur Kurfürstenstraße. Immer wieder mache ich Abstecher/Stopps um an anderen Themen zu arbeiten (Containerbauwerke, Parkhäuser, Reflektionen, moving shadows). Der Zwang, die Herbstdepression weggeblasen, Action is on! Auf der Ecke steht Bernds Currywurstbude. War ich bislang blind oder die Bude nie geöffnet? Seit 73 auf dem Corner, bei Christina F. Im Film mitgespielt und heute sein letzter Tag weil ab morgen bis März in Thailand. Rentner, die Konzession für die Bude hat er noch bis nächstes Jahr, danach mal sehen. Rot-weißgestreifte Tischdecken in knalligem Sonnenlicht, erst trinke ich einen fettigen Kaffee und dann nach einiger Weile auch noch ne Bullette mit noch fettigeren Pommes, wow bin ich saugut drauf, noch paar zwanghaft Aufnahmen, der Besuch ist allerdings längst im Kasten.

Auf dem Rückweg nehmen verschiedene Aspekte Gestalt an:

Was heißt „Reclaim Your City“ für mich? Dass ich mich auskenne, dass ich weiß wo es was gibt, dass ich mitschneide was im öffentlichen Raum passiert, dass ich meine Nischen entdecke, dass ich die Geschichtlichkeit des Ortes erfasse, dass ich ……. und schließlich, dass ich entsprechend all dieser Wahrnehmungen auch die Stadt gestalte. Ob das jetzt hier passieren muss oder nicht ist irgendwie egal. Aber ich habe mir an dieser Stelle die Stadt angeeignet, weiße Flecken auf der mentalen Landkarte von Berlin bearbeitet und Bezüge hergestellt. Wuuf

Das methodische Vorgehen erachte ich auch als Bereicherung. Sich Räume alleine und gemeinsam im Wechselspiel zu erarbeiten bockt. Sich immer auch mal alleine seinen Gefühlen zu ergeben, die dann später gemeinsam weiterzuentwickeln oder in etwas anderes zu überführen, ist dabei wichtig.

Bewegung 24.11. – 1.12.

Es geht (nicht) los. Wir werden einen Tag vor dem geplanten GO-IN auf den darauffolgenden Tag vertröstet. Ach, irgendwie passts in den Kram.
Nele verschiebt die Fernseher-Abholung in Schöneberg ebenfalls um einen Tag. Am nächsten Tag dann eine knatschige (offene, zerknirschte, echte, endgültige, aussichtsreiche) Absage: Eine Verabredung deren Prozess eine gefühlt aktivierende Wirkung hat. Enttäuschung, Entspannung, Genugtuung als Gefühle in meinem Umfeld. Unsere bislange gemachte Arbeit wird keinen Output finden. Aber vielleicht einen besseren?

Wir treffen uns trotzdem am Freitag vor der Gallerie und suchen Räume, bis wir uns in die Cafeteria der Beuth einschmuggeln. Wir beschließen einen Move, ich lasse mich von der Stimmung anstecken. Leider verhindert die Vorgeschichte ein überspringen des Funkens in richtiges Engagement aber der utopische Moment ist spürbar. Etwas ungeplantes unvorhergesehenes tritt ein, kündigt sich die ganze Woche über an und wir schauen was passiert. Im Vergleich der Orte (Neo vs. Neue National Gallerie) kommt die Frage auf, was ich an den jeweiligen Orten wollte und will. Die Antwort ist „Nichts“ und „Alles“ woraus der Slogan

„Alles für Nichts“ entsteht.

Der 1. Dezember ist kalt und verregnet. Eine Schlange aus Einkaufswägen wird mit Leuchtstoffröhren verkabelt und irgendwann setzt sich der Trupp auf dem Bürgersteig in Bewegung. Euphorisch der Moment als wir diagonal über die Potsdamer Straße gehen.

Ein lustiges Spektakel von dem 1 Woche später nur noch die um die NNG verteilten Einkaufswägen zeugen. Die Polizisten haben sogar die Kreide von der Wand gewischt.

Wir kehren in der KARAKAS-Bar ein, torkeln durch den Gleisdreieck-Park, bauen einen Joint in der U-Bahn und müssen im Cafe Linus feststellen, dass Ronnys Geburtstag schon vorbei ist. Zu später Stunde versuchen wir uns die Blockade der Stadt Hamburg im nächsten Juli vorzustellen und die Auswärtigen machen

„Reclaim Your City“ im ursprünglichen Sinn.

Nachtrag 22.3.

Vier Monate später radeln wir zufällig nach einem erfreulichen Termin am Victoria-Luise-Platz wieder an der Kurfürstenstraße vorbei.

Fucking activity fucking everywhere. Die Bauarbeiten an den Eigentumswohnungen sind mittlerweile im dritten Stock angelangt. Ein Gebäude gegenüber von Möbel Hübner wird mit brachialen Mitteln zerlegt. Der Parkplatz von Möbel Hübner und die Brachfläche sind vollkommen umgegraben, alle Bäume abgesägt.

Das Stadtteilbüro der Grünen im Container ist weg, auch diese Fläche geräumt.

Mittendrin steht Bernd als wäre er nicht 3 Monate weg gewesen und verteilt Currywürste an die Kunden – die Sonne scheint.

Was hier wohl alles noch passiert, wird erst bei den nächsten Besuchen sichtbar sein.

Recherche:

http://www.zitty.de/kurfuerstenstrasse/ Der große Ausverkauf Kurfürstenstraße
http://www.vice.com/de/read/bilder-vom-berliner-strassenstrich
Frauentreff OLGA: http://www.notdienstberlin.de/standorte/olga/
Video von Vollidioten: https://www.youtube.com/watch?v=eoKka2WPX2Y
Bernds Currywurstbude bei google