Wandspruch, gemalt 2012 in der Schlesische Straße, Berlin-Kreuzberg.
Kreuzberg lag zu DDR-Zeiten dicht an der schwer bewachten Grenze zwischen West- und Ostdeutschland. Vielleicht deshalb schrieben Unbekannte »Bonjour Tristesse« an den Giebel eines neu gebauten und gerade fertig gestellten Eckgebäudes am Schlesischen Tor, vielleicht auch wegen seines monotonen betongrauen Äußeren. Wie andere Teile Kreuzbergs war dies keine attraktive Wohngegend für Besserverdienende, sie zog Migrantinnen, Künstlerinnen, Studierende und Hausbesetzerinnen an. Der Spruch scheint zumindest einen Nerv getroffen zu haben. Das Haus ist bis heute nach ihm benannt und es ist eines der ältesten Graffitis in Kreuzberg und in unzähligen Büchern und Fotoalben von Touristen abgebildet. In den Folgejahren veränderte sich mit dem Mauerfall, der Privatisierung des Spreeufers und der veränderten Lage – der Stadtteil war vom Rand ins Zentrum Berlins gerückt – die Umgebung stark. Wohnungen oder Gewerberäume im Wrangelkiez sind mittlerweile begehrt und teuer. Viele von ihnen sind in Airbnb-Wohnungen umgewandelt worden, in die Fabriketagen sind Start-up-Unternehmen eingezogen. Läden haben ihr Angebot an die Bedürfnisse der Touristinnen angepasst, die verbliebenen Mieter*innen wehren sich mit Initiativen wie »Bizim Kiez« gegen die drohende Verdrängung.
An dem erwähnten Eckgebäude ist mit »BITTE LEBN« nun ein neuer Schriftzug zu sehen, der eine inhaltliche Brücke zwischen der Zeit der ersten Hausbesetzerbewegung in Berlin-Kreuzberg und den aktuellen politischen Debatten bildet. Der Mensch, der den Spruch an die Wand rollerte, hatte ihn in dem Fotoband »Spray-Athen – Graffiti in Berlin« über die Kämpfe zu Beginn der 1980er-Jahre gefunden. Den Spruch wiederzubeleben war eine gute Idee, auch wenn sich zwar nicht seine Bedeutung, aber der räumliche Kontext im jetzt hippen Kreuzberg sehr verändert hat. Die Stelle, auf die er gemalt wurde, ist schon von Weitem von der anderen Seite der Spree von der Oberbaumbrücke aus und vom U-Bahnhof Warschauer Straße im ehemaligen Ostteil gut zu sehen.
Das Gebäude, an das der Spruch im Frühling 2012 kopfüber hingeschrieben wurde, ist in die Architekturgeschichte eingegangen. Der portugiesische Architekt Álvaro Siza Vieira entwarf es als ein Hauptprojekt der Internationalen Bauausstellung 1987, die sich unter dem Motto der »behutsamen Stadterneuerung« einer architektonisch und ästhetisch durchdachten Sanierung von Altbaugebieten widmete. Den Malern war die Vorgeschichte des Hauses damals nicht bekannt: »Jahre später wurde ich von einem Bekannten in Mexiko auf das Gebäude angesprochen, weil es in seinem Architekturstudium in Mexiko-Stadt Gegenstand war und er daher auch das Graffiti kannte.«